14. Mai 2020
Strom aus Wasserkraft
Grossprojekt Staumauer Spitallamm
An der Grimsel wird gebohrt, gesprengt und gebaggert. Was auf den ersten Blick brachial anmutet, ist de facto eine Investition in die Zukunft.
Ein lautes Quietschen und Kratzen tönt von der Plattform herauf. Im Scheinwerfer des Schreitbaggers blitzt loses Geröll auf. Nebel dimmt das Licht der starken Baulampen, die die Spitallamm-Baustelle während der Nacht von der Staumauer aus beleuchten. Direkt vor den Lampen leuchten die schweren Regentropfen wie ein Vorhang aus Glasperlen. Jetzt hallt ein lautes Poltern von den Felswänden. Der Maschinist hat mit der Baggerschaufel einen grossen Stein gelöst und über die Felswand in die Tiefe gewuchtet. Stück für Stück wird die Arbeitsplattform gesäubert. Bei besonders schweren Brocken bäumt sich der kräftige Bagger auf, rüttelt, schüttelt und zittert, kleinere Steine fegt er über die Felskante wie Brotkrümelchen. Es ist Massarbeit am Abgrund. Für den Bau der neuen Staumauer muss der Fels für die Fundamente seitlich abgetragen werden, Meter für Meter, von oben nach unten. «Die oberste, verwitterte Schicht des Gesteins muss weg, so dass wir die neue Mauer links und rechts im kompakten Fels verankern können», erklärt Christof Frutiger, einer der vier Bauleiter der KWO.
Die Besonderheit der doppelt gekrümmten Bogenstaumauer, die hier gebaut wird, liegt darin, dass die Kräfte nicht primär in den Boden am Talgrund abgeleitet werden, sondern in die Talflanken. Frutiger, der in Innertkirchen aufgewachsen ist, war als Bauingenieur bereits bei jener Unternehmung tätig, die die Mauer geplant hat, und kennt das Projekt bestens. «Aus Sicht des Bauingenieurs hat die Mauer eine sehr elegante Form», sagt er, «und sie ist obendrein interessant, weil es für diesen Typ von Staumauer am wenigsten Beton braucht.»
Jürg Kehrli, Polier Felsabtrag, ARGE Grimsel, schiebt sich den Helm aus der Stirn. Er ist soeben über eine luftige Leiter von der Plattform zur Mauerkrone hochgeklettert und funkt nun mit dem Kranführer, der die Materialbahn bedient. Er könne das Bohrgerät bringen, meldet Kehrli durch das Funkgerät. Wie im Theater schiebt sich langsam ein dunkler Schatten in die Szenerie, schwebt über den Talgrund bis zur Plattform. Das Bohrgerät ist rund sechs Tonnen schwer und muss jedes Mal, wenn gesprengt wird, mit der Materialseilbahn in Sicherheit gebracht werden. Derzeit sprenge man ungefähr einmal pro Tag, erklärt Kehrli, dessen Funkgerät bereits wieder rauscht. Einmal am Tag wird der Koloss also über die Schlucht gehoben. Dazwischen bohren die Arbeiter Löcher in den Felsen, laden nach genauem Plan Sprengstoff ein, sichern vor der eigentlichen Sprengung die Geräte und beginnen danach mit dem Wegräumen des Materials. Wenn alles gesäubert ist, beginnt der Prozess von neuem. «Es ist schon rau», räumt Kehrli ein, «und ich bin froh, habe ich gute Leute.» Ende Oktober beginnt die Nacht früh und endet spät, so dass viele Aufgaben im Dunkeln erledigt werden müssen. Gearbeitet wird in zwei Schichten, die eine dauert von morgens um 5 bis um 14 Uhr, die zweite geht von 14 bis um 23 Uhr. «Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles», sagt Kehrli, «ans Wetter, den knappen Platz und die kalten Finger.»
«Einmal am Tag wird der Koloss über die Schlucht gehoben.»
Die anspruchsvolle Baustelle braucht nicht nur Nerven und Geduld, sondern auch eine gut abgestimmte Zusammenarbeit. Die verschiedenen Bereiche der Baustelle stehen in direkter Abhängigkeit von einander und manche Arbeitsschritte haben Folgen für andere Beteiligte. Ohne Rücksicht aufeinander wäre das Chaos an der Spitallamm innert Stunden gross. So sind beispielsweise die Arbeiter im Fundamentaushub auf die Seilexperten angewiesen, die Zugänge installieren oder Sicherungsnetze anbringen, um die Arbeitssicherheit zu gewährleisten. Unten, am Fuss der Mauer, ist eine weitere Truppe mit Vorbereitungen für die Betonanlage beschäftigt, die künftig dort stehen wird. Jedes Mal, wenn oben an den Felsflanken gesprengt wird, müssen sich unten alle in Sicherheit bringen und ihre Arbeit unterbrechen. Am Wandfuss befindet sich auch der Eingang zur sogenannten Lagerkaverne. Dort sind Männer im Untertagbau damit beschäftigt, einen Zugang zu sprengen, der zum neuen Lift in der Staumauer führen wird. Zwar scheint auf den ersten Blick im Dunkel des Stollens die übrige Welt ausgeschlossen. Doch auch hier ist es nicht unwesentlich, was die andern in der Höhe tun, denn die Untertag-Equipe stellt beispielsweise ihre Maschinen ausserhalb des Stollens ab und ist gut beraten, dies nicht im schlimmsten Steinschlag zu tun. Die Untertag-Equipe wiederum muss Rücksicht nehmen auf den laufenden Kraftwerksbetrieb.
«Wir haben hier in unmittelbarer Nähe sensible Anlagen, die erschütterungsempfindlich sind», erklärt Andreas Baumann, Bauführer Untertagbau, ARGE Grimsel, «das bedeutet, dass wir sehr sanft vorgehen müssen beim Sprengen.» Es ist nicht in erster Linie die alte Staumauer selber, der man Sorge tragen muss, vielmehr sind es die Steuerungsanlagen in einer Regulierkammer am Wandfuss, die einem sonst üblichen Sprengvortrieb nicht standhalten würden. Schliesslich läuft im Untergrund der normale Kraftwerksbetrieb weiter, Baustelle hin oder her.
Nach jedem Meter, den die Untertag-Truppe aus dem Berg sprengt, wird gemessen und neu beurteilt. «Die Sache ist diffizil wegen des Zünd- und Ladeschemas, die natürlich einen direkten Einfluss auf die Erschütterungen hat», verdeutlicht Baumann. Trotz der täglichen Herausforderungen empfindet es auch Andreas Baumann als Ehre, an einem Jahrhundertbauwerk wie der Staumauer Spitallamm beteiligt sein zu können.
Oben auf der Mauer machen sich die Spätschichtler auf den Weg zum Nachtessen. Anstatt die vielen Treppen zur Kantine oben neben dem Grimsel Hospiz hinaufzusteigen, holen sie sich jeweils vor Arbeitsantritt ihr Essen ab und wärmen es im ehemaligen Bootshaus mitten auf der Staumauer auf. Das Häuschen ist für die Bauarbeiten zu Garderobe und Pausenraum umfunktioniert worden. Für einen Augenblick kommt behagliche Gemütlichkeit auf, während der Wind draussen über die Mauerkrone pfeift und der Regen an die Fenster prasselt. Die Männer schälen sich aus ihren vielen Kleiderschichten, schieben die vorbereiteten Teller in den Mikrowellenherd und setzen sich an den Tisch. Keiner murrt, keiner jammert; die meisten hier lassen sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. «Ich bin an der Kante gross geworden und habe nicht so schnell Höhenangst», sagt Walter Brunner und lacht. Er lebt in Gimmelwald über den Felsen des Lauterbrunnentals.
Auch David Brand, Schreitbagger-Fahrer, pflichtet ihm bei. Angst sei ein schlechter Ratgeber. Respekt ja, aber Angst könne man nicht brauchen bei der Arbeit am Abgrund. Unter diesen extremen Bedingungen kommt es auf die Erfahrung an, auf das Knowhow und aufs Gefühl. Der einzige Aspekt, der hier tatsächlich zu etwas Nervosität führt, ist der Gedanke an möglichen Schneefall. Auf dieser Höhe kann es jederzeit weiss werden und dann, so sind sich alle einig, würde es richtig anspruchsvoll, was übersetzt aus der Berglersprache wohl ungefähr soviel bedeutet wie «kaum machbar». Doch für den Augenblick sind alle zufrieden, dass der Koch heute zum Glück kein Gericht geliefert hat mit brauner Sauce – die mögen die Arbeiter nicht besonders, aber sonst, so murmeln alle zustimmend, sei es immer sehr lecker, was der Frank oben in der Küche zubereite.
Text: Annette Marti | Fotografie: David Birri
Ursprünglich veröffentlicht im Magazin der Grimselwelt.
In Beiträgen wie diesem steckt eine Menge Arbeit. Und viel Herzblut. Schade finden wir, wenn sie nur einmal publiziert werden. Folglich haben wir an dieser Stelle quasi eine Fundgrube eingerichtet. Mit, so finden wir, grossartigen Artikeln aus dem Fundus der KWO Kommunikation in Innertkirchen.
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