26. Februar 2020
Was kluge Direktoren tun
Einst stand in Pontresina ein Palace
Das Haus steht heute noch. Seit 1964 heisst es Hotel Walther und hat nicht den Hauch seiner damaligen Grandezza eingebüsst. Im Gegenteil.
Versetzen wir uns, zur Einstimmung, in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts. Pontresina ist ein verschlafenes Bergdorf. Der Ort verfügt zwar über eine Handvoll Hotels, begrüsst darin eine bescheidene Anzahl Gäste, hat einen Bergführerverein, lebt unterm Strich aber von der Landwirtschaft. Und von dem, was auf der historischen Via Valtellina ausgetauscht wird: Wein, Salz, Zucker und Vieh. Zwar ist das Interesse an den Vorzügen der Bergregion, an frischer Alpenluft, ausgedehnten Wäldern und imposanten Gletschern, vorhanden, doch der touristische Boden, sprich die nötige Infrastruktur, fehlt.
Für hiesige und internationale Gäste bequem erreichbar und entsprechend attraktiv wird Pontresina mit der Eröffnung der Berninabahn 1908. Fast zeitgleich entsteht das Hotel Palace. Ein Jugendstilbau mit 106 Zimmern und 120 Betten. Kostenpunkt 2.5 Millionen Franken. Für damalige Verhältnisse ein schöner Batzen Geld: Vor zirka hundert Jahren waren für eine Hunderternote immerhin etwa 526 Kilo Kartoffeln, 44 Kilo Käse oder 47 Kilo Schokolade zu bekommen.
Als das Palace Hotel am 17. Juni 1907 die ersten Gäste willkommen heisst, sind Freude und Stolz gleichermassen gross, jedoch nicht von bleibender Dauer. Der Erste Weltkrieg, die grosse Weltwirtschaftskrise, verursacht durch den New Yorker Börsencrash im Oktober 1929, dann der Zweite Weltkrieg treffen den Tourismus mitten ins Herz. Träume und Hoffnungen werden zerstört, Arbeitsplätze vernichtet. Die Doppel-, oder wenn man denn so will, Dreifachkrise erschüttert die anfälligen Berggebiete fundamental, hinterlässt tiefe Spuren und hemmt den Tourismus bis 1950. Hätten nicht wenigstens die Schweizer Gäste dem Palace die Treue gehalten, es wäre, so die Vermutung, garstig geworden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg findet ein rasanter Wirtschaftsaufschwung statt, von dem auch die Bergregionen in hohem Masse profitieren. Die internationalen Touristen, wenn auch in anderer Zusammensetzung, kehren zurück, man blickt wieder optimistischer in die Zukunft und ist bereit, zu investieren. Langer Rede kurzer Sinn: An einem kühlen, aber heiteren Novembertag, wir schreiben das Jahr 1957, reist Hans Walther, der damalige Pächter des Palace Hotel, nach Chur. Im Gepäck den Kaufvertrag für das Hotel, im Herzen Entschlusskraft und Tatendrang. Im Rücken die Bank und deren günstige Bedingungen. Allerhand Optimismus sowie Vertrauen in die Zukunft, so die Spekulation, treiben den künftigen Hotelbesitzer zusätzlich an. Also wird das Palace Hotel zum Walther Palace und 1964 zum Hotel Walther. Soviel zum historischen Hintergrund.
«Frisch soll er sein und lebendig, der neue Auftritt.»
Jetzt zur Gegenwart. 2017 entschliessen sich Thomas und Anne-Rose Walther, die Besitzer in dritter Generation, dem Haus einen neuen Look zu verpassen. Exakt auf das 110-jährige Jubiläum und quasi als Aufmerksamkeit an sich selber. Frisch soll er sein und lebendig, der neue Auftritt. An alte Werte anknüpfen soll er ebenfalls und traditionelle Handwerkskunst neu interpretieren. Ein kniffliges Unterfangen, insbesondere bei einem Jugendstilbau. Solcherlei erfordert solides Wissen und viel Erfahrung. Obendrein eine akribische Planung.
Das Direktoren-Ehepaar tut, was kluge Direktoren tun. Sie holen sich Rat und Unterstützung. Von solchen, die wissen, was sie tun. Und gut sind in dem, was sie tun. Innenarchitektin Virginia Maissen beispielsweise. Die gebürtige Bündnerin hat zum einen ein sicheres Händchen für die Planung und Gestaltung von Räumen und ist zum anderen mit den ortstypischen Ornamenten vertraut. Jenen allgegenwärtigen abstrahierten Mustern, die in Kalk gekratzt, in Stein geritzt, in Holz geschnitzt und auf Stoff gedruckt werden. Viele dieser Ornamente haben eine symbolische Bedeutung, also tiefer gehende Aussagen, verschlüsselte Hinweise und geheime Botschaften.
Das Engadin lebt von solcherlei Traditionen, Handwerkskunst und Erzählungen wie das heimische Murmeltier von frischen Alpkräutern. Oder der Tourist von niveauvollem Hotelkomfort. Also halten das Team Walther und Maissen exakt hier die Finger drauf. In anderen Worten: Die ursprünglichen Werte des Hauses sollen aufgefrischt, sicht- und erlebbar werden. Ergo hebt man aus dunklen Kellern beinah vergessene Schätze, legt unter textilen Böden verborgene Schönheiten frei und lüftet hinter Holzverkleidungen kleine Geheimnisse aus vergangenen Zeiten. Während fachkundige Hände liebevoll restaurieren, was ans Tageslicht kommt, spielen kreative Köpfe Kombinierungs- und Inszenierungsmöglichkeiten durch. Hier eine Rarität solitär inszeniert, da dieses und jenes Kleinod mit modernen Elementen kombiniert und, damit es noch spannender wird, auf dem Weg dorthin Symmetrie verlassen, um sie anderorts wieder aufzunehmen. Mit dem Resultat, dass vieles, eigentlich fast alles, besser wird, als es bis vor kurzem war.
All denen, die jetzt finden, «Wer nicht Wort halten kann, soll keine Reden halten», sei empfohlen, sich vor Ort ein Bild zu machen. Um selbst zu entdecken, inwiefern Kunst, eigensinnige Konzeptionen und lokales Handwerk raffiniert zusammenspielen können. Wie kluges Wirken das brachiale Bergleben von draussen festhält und häppchenweise ins geschützte Drinnen bringt. Um Schritt für Schritt, von Raum zu Raum dem Geheimnis des Engadiner Scraffito auf die Spur zu kommen und zu sehen, welch unzählige Möglichkeiten es gibt, dessen geheimnisvollen Motivschatz einzusetzen. Um gleichzeitig die einzelnen Materialien zu erfühlen, dadurch ihre Bearbeitung zu ergründen und so das damit untrennbar verbundene Handwerk zu verstehen.
Während ringsum versucht wird, Gasthäuser mit austauschbarem «Alpenschick» aufzupeppen, oder, noch ärgerlicher, so manche architektonische Trouvaille mit viel unpassendem Design, notabene in minderwertiger Qualität, und überladenen Konzepten gedankenlos zugrunde gerichtet wird, haben Thomas und Anne-Rose Walther verstanden, was Sache ist. An alte Werte anknüpfen etwa. Den Schneid haben, Traditionen aufrechtzuerhalten. Sie sind sich im Klaren darüber, dass der Zauber von damals die Seele ihres Hotels ist und sie ihm diese auf keinen Fall nehmen dürfen. Virginia Maissen tat das Ihre dazu: indem sie respektvoll umging mit dem, was war und es zugleich mit dem kombinierte, was sein soll. Ohne ausser Acht zu lassen, wie ein Hotel im Hier und Jetzt funktionieren muss. Was insbesondere die 4- und 5-Sterne-Kategorie betrifft, weil hier der Anspruch auf Komfort besonders hoch ist. Walthers und Maissen haben verstanden. Und dabei alles richtig gemacht.
Fussnote: Als Hans Walther das Hotel 1957 erwarb und sieben Jahre später den Begriff «Palace» über dem Eingang entfernen liess, tat er das aus folgenden Motiven: Zum einen wollte er sich vom nahe gelegenen Mitbewerber aus St. Moritz abheben und zum andern war er der Meinung, er wolle es mit einem «richtigen» Grand Hotel ohnehin nicht aufnehmen. Stand heute, so die Vermutung, würde Walther seine Sicht auf die Dinge überdenken. Weil völlig neue Dinge in Sicht sind.
Text: Urs Blöchliger | Fotografie: Hotel Walther
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