Reportagen
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Gestrandet: Notsé

Weil die Eltern des Fünfjährigen die Transfusion und Medikamente nicht bezahlen können, wird niemand im Krankenhauses von Notsé aktiv.

In der Pädiatrie des Krankenhauses von Notsé, einer Kleinstadt im Landesinneren von Togo, stützen Eltern ihre geschwächten, in Stahlbetten liegenden Kinder. Ein Junge in weissem Shirt und weisser Windel, wohl um die fünf Jahre alt, atmet schwerer als die anderen. Er röchelt, er kämpft, hat keine Kraft mehr im kleinen Körper und bald auch kein Blut – Anämie ist eine Folgeerscheinung der togolesischen Volkskrankheit Malaria.

Weil seine Eltern die Transfusion und Medikamente nicht bezahlen können, weil sie nicht einmal 40 Euro auftreiben können, wird niemand im Krankenhaus aktiv. Nicht die Krankenschwester, nicht der Arzt, niemand. Im Alltag Afrikas kann es sich keiner leisten, Ausnahmen zu machen. Also sitzen sie da, ordnen Krankenakten und Kanülen. Sie bleiben sitzen, während das Kind kämpft und die Zeit rennt.

Die Uhr schlägt 10 an diesem Donnerstagvormittag Anfang Februar, aber schon liegt die Hitze über Togo wie ein zu schweres Tuch. Erst seit sechs Stunden bin ich im Land.

In Lomé, der Hauptstadt, hat mich Maristella Bigogno, eine weltliche Missionarin aus Norditalien mit kurzen braunen Haaren und Zahnspalte, frühmorgens abgeholt. Drei Stunden Schlaf, und schon sitzen wir wieder im Auto, die löchrige Strasse nach Notsé entlangfahrend.

Im dortigen Krankenhaus wird Maristella von Menschen angehalten, welche die Gebühr für den Aufenthalt nicht bezahlen können, die eine Operation brauchen oder Medikamente. Sie sammelt Bitten wie Beschwerden, routiniert. Auch die Eltern des in der Pädi­atrie schwer atmenden Jungen kommen auf sie zu. Aber für ihn kann niemand mehr etwas tun. Zu spät käme eine Transfusion, eineinhalb Stunden nur, aber zu spät. «Man kann den Tod schon riechen», sagt Maristella. Sie behält recht. Bald darauf hört der Junge auf zu atmen, er stirbt.

Vor ihm stehen seine Mutter, sein Vater, und irgendwo dahinter an der Mauer lehne ich, die zufällig an diesen Ort gekommen ist, diese Szene miterlebt, den Tod eines Menschen, eines Kindes. Ich versuche nicht aufzufallen an meinem ersten Tag in Togo. «Herzlich willkommen», sagt der Krankenpfleger später. Ich schäme mich.

Der Vater redet auf die Krankenhausangestellten ein, redet mit sich, redet mit mir. Die Mutter weint, kein verzweifeltes Weinen, kein unfassbares Schreien. Nicht, weil der Schmerz einer afrikanischen Mutter weniger stark wäre als der einer europäischen, wenn sie ihr Kind verliert. Wohl eher, weil sie damit rechnen musste, dass sie eines ihrer Kinder nicht durchbringen wird, an Malaria oder an irgendeine andere Krankheit verliert.

Sie wickeln den Jungen, dessen Namen ich nicht kenne, in ein dunkelrotes Tuch und fahren auf einem Motorradtaxi mit ihm davon. Mutter und Vater sitzen, das tote Kind im Arm, hinter dem Fahrer. Dieser darf nicht merken, dass der Junge tot ist, sonst würde er ihn nicht transportieren, und nie könnten die Eltern einen Totentransport bezahlen. Zu Hause werden sie ihr Kind in einen Karton legen und neben dem Haus begraben, wie es üblich ist, wenn das Geld fehlt.

Jeden Tag sterben Kinder einen ähnlichen Tod. Ich weiss das, dennoch, so lerne ich, ist es anders, von einer Katastrophe gehört, vielleicht gelesen zu haben, als ihr ins Gesicht zu sehen. Und das vermeidbare Sterben eines Fünfjährigen ist nichts anderes als eine Katastrophe.

Wieder zu Hause werde ich Maristella eine Summe für den Kauf von Bluttransfusionen überweisen. Aber hier, an diesem Ort, wirkt Geld zu abstrakt, zu nichtig.

Am darauffolgenden Sonntag fahre ich wieder in das Krankenhaus. Dort ordne ich mich in die Schlange der Blutspender ein, werde nach einer Stunde des Wartens in das Behandlungszimmer gebeten. Das erste Mal in meinem Leben lasse ich 250 Milliliter rote Flüssigkeit aus meinem Körper in einen Plastiksack pumpen.

Ich kenne meine Blutgruppe nicht. Der Krankenpfleger bestimmt sie, AB negativ, sagt er und schaut das Ergebnis leicht skeptisch noch einmal unter dem Mikroskop an. Merkwürdige Blutgruppe, selten in Togo, nie kam sie ihm bisher unter. Auch Maristella – seit 31 Jahren im Land – nicht, fast wirkt sie enttäuscht. Am Ende, denkt sie wohl, kann das Blut gar nicht gebraucht werden. Der Krankenpfleger lässt den Plastiksack im Kühlschrank auf­bewahren und bedankt sich, ich gehe.

Am Tag darauf liegt dort, wo Tage zuvor der fünfjährige Junge starb, Pipo Endokua, neun Monate alt. Seine Mutter hält die kleinen Finger, die wieder kräftiger sind, in ihren. Frühmorgens sei sie zu Fuss angekommen, sagt der Krankenpfleger, im Arm ihren nur noch schwer atmenden Sohn. Auch seine Diagnose: Blutarmut aufgrund einer nicht behandelten Malaria.

Als der Junge im Krankenhaus ankommt, ist nur eine Blutspende im Kühlschrank, diese merkwürdige, in Afrika seltene, AB negativ. Blut einer jungen Frau aus Europa. Der Krankenpfleger testet das Kind und denkt, unwahrscheinlich, dass ihm geholfen werden kann. Er sieht das Ergebnis, kontrolliert es noch einmal. Er sieht richtig. Pipo Endokua, der kleine Junge aus dem togolesischen Busch, er ist mein Blutsbruder.

  • Barbara Bachmann

Ursprünglich veröffentlicht in REPORTAGEN #40.
In Beiträgen wie diesem steckt eine Menge Arbeit. Und viel Herzblut. Schade finden wir, wenn sie nur einmal publiziert werden. Folglich haben wir an dieser Stelle quasi eine Fundgrube eingerichtet. Mit, so finden wir, grossartigen Artikeln aus dem Fundus von Reportagen – dem unabhängigen Magazin für erzählte Gegenwart.

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