Da stand ich nun, gefühlt am Ende der Welt. Mutterseelenallein. Zu meiner Linken die begrünten Lavafelsen Teneriffas, die sich steil in den Himmel bohrten; zu meiner Rechten die krachenden Wellen in etwa 50 Metern Tiefe; über mir die Sonne und keine einzige Wolke; um mich herum ein kräftiger Passatwind, der mir Stirn und Nacken kühlte; vor meinem Auge nichts als der Ozean und ein dunstiger Horizont, in dem sich Meer und Himmel zu einer weich fliessenden Ahnung in blau vermischten. Keine befahrbare Strasse hatte mich auf diesen schmalen Pfad geführt, allein meine Füsse. Das nächste Dorf, bestehend aus ein paar kleinen Häusern, die sich wie hingesprenkelt in die Hänge des Anaga-Gebirges drängten, hatte ich nach einer Stunde serpentinenreicher Busfahrt erreicht und vor ein paar Kilometern glücklich hinter mir gelassen.
Es war schwer gewesen, den Menschen zu entkommen. Ich hatte weit reisen müssen, um allein endlich zu sein. 3654,56 Kilometer weit, fünf Stunden Flug Berlin-Schönefeld – Teneriffa-Nord. Vor meinen Landsleuten war ich trotzdem nicht sicher. Überall traf ich Deutsche auf der Insel. Im Bus, am Strand, in meiner Pension. Der Deutsche lässt sich am besten im Ausland studieren. Wobei: Inwieweit Teneriffa überhaupt als «Ausland» gelten darf aus deutscher Perspektive, bleibt fraglich; bei all den Ü-50-Müllers, Schmidts und Meiers, die die Insel jährlich heim- beziehungsweise besuchen. Das Peinliche ist: Man erkennt den Deutschen sofort. An den Füssen trägt er stabile Wanderschuhe mit 360 Grad Klimakomfort, seine Waden stecken in atmungsaktiven Funktionsstrümpfen, darüber legt sich der Saum einer beigen Trekkinghose, die sich bei zu grosser Hitze auch auf halbe Länge trimmen lässt, den Oberkörper bedeckt ein blau-grün kariertes Hemd, gebügelt natürlich, die «Kompass-Wanderkarte 233, Teneriffa 1:50 000» steckt in der linken Brusttasche, griffbereit, die Hände umschliessen mit der nötigen Entschlossenheit jeweils links und rechts einen Trekkingstock, den Kopf bedeckt ein beiger Anglerhut, Reste von Sonnencreme kleben dem Deutschen auf der Nase.
Ich aber hatte heute Glück: Ohne es mir recht erklären zu können – denn das Wetter war warm und sonnig, jedoch nicht zu heiss und damit perfekt –, war ausser mir keiner der vielen Deutschen auf dem Wanderweg unterwegs, der mich im Norden Teneriffas entlang der Küste von Taganana zum Playa Tamadiste führen sollte. Meine Wanderkarte hatte ich in der Pension vergessen, also folgte ich den Schildern am Wegesrand und meinem Instinkt. Beides hatte mich geradewegs in das ehemalige Weindörfchen El Chorro geführt, von dem aus früheren Zeiten nicht mehr als ein paar Häuserruinen und Weinstöcke übrig geblieben waren, denen man Erklär-Tafeln für die Touristen zur Seite gestellt hatte, da tauchte sie plötzlich vor mir auf: meine wahr gewordene, in Stein gehauene Sehnsucht. In Form eines Quaders, vielleicht 30 Quadratmeter gross. Mit knallrotem Anstrich und einem kleinen Fenster neben der Haustür, in dem eine pastellgelbe Gardine leuchtete. Das perfekte Haus am Meer. Klein, sicher, aber dafür auf Kante mit dem Fels gesetzt. Was für ein Ausblick auf den Atlantik! Ich traute meinen Augen nicht, denn um mich herum standen bloss verfallene Häuschen. Weit und breit war keine Person zu sehen. Dieses Haus aber wirkte tatsächlich, als sei es bewohnt. Ich konnte zwar nur die Fronseite sehen, aber die frische Gardine im Fenster und der gepflegte Vorgarten mit Blumentöpfen liessen keinen anderen Schluss zu.
Innerlich seufzte ich laut. Neid kroch in mir empor. Ich stellte mir vor, wie der Bewohner des Hauses ein glückliches Eremitendasein führte, abseits nerviger deutscher Touristen und anderer Menschen, die ihn oder sie behelligen konnten. Das Meer als den einzigen, stillen Freund, der immer da war, aber nie aufdringlich wurde. In meinem Kopf mussten die Menschen hier draussen per se glücklicher sein als die in Berlin, einfach, weil sie tagtäglich von der Schönheit und Fülle der Natur umgeben sind. Weil sie das Meer sehen und hören, jeden Morgen, wenn sie aufwachen, jeden Abend, bevor sie zu Bett gehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man diesem Anblick, dem Meer selbst, jemals überdrüssig werden sollte; was brauchte man denn noch, wenn man das hier alles hatte? Ich seufzte noch einmal, in Gedanken mein Bild jenes Eremiten weiter ausmalend, den ich in meinem Traumhaus vermutete. Wahrscheinlich sass er – in meinen Kopf war es ein Mann mit schlechten Zähnen und von der Sonne gegrabenen Furchen im Gesicht – jeden Morgen mit einem Kaffee an einem Fenster zur Meeresseite gewandt und grüsste das Wasser, dem er sich bei Problemen so sehr anvertraute wie keinem Menschen. Der Mann und das Meer, sie waren eins, da war ich mir sicher.
Zumindest bis der Pfad, auf dem ich wanderte, eine Kurve machte und ich mich noch einmal versonnen nach dem kleinen Häuschen umdrehte. Nun sah ich auch die Rückseite des Quaders, die sich dem Wasser zuneigte: Kein einziges Fenster war dort in die Steinwand des Hauses eingelassen. Nicht mal ein winziges Guckloch zum Wasser hin. Nichts! Und da dämmerte es mir: Niemand sass hier jeden Morgen und prostete versonnen den Wellen zu. Offenbar hatte es für die Leute hier draussen doch noch Verführerischeres gegeben als den Anblick auf das Meer. Zum Beispiel die Annehmlichkeiten eines moderneren Lebens im nächstgrösseren Ort – oder gar in einer Stadt. Weswegen sie nicht nur dem Ausblick, sondern gleich dem ganzen Ort im Wortsinne den Rücken gekehrt hatten. Ich fühlte mich unglaublich naiv. Der Mann und das Meer, sie waren wohl bloss in meinem grossstädtischen Touristen-Kopf beste Freunde.
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