Reportagen
Weltgeschehen im Kleinformat

Gestrandet: Weissenfels

Das Glück wiegt 397 Gramm. Die Erleichterung packt fünf Windeln ein.

Ich stelle mir vor, dass du grösser sein wirst als ich, aber deine Augen, fürchte ich, werden ähnlich kurzsichtig sein wie meine, tut mir leid. Wie wirst du aussehen, wenn du erwachsen bist? Welche Kleidung wirst du tragen, was wird man tragen in dieser unbestimmten Zukunft, in der du die Schachtel mit deinen Kindheits-Andenken aufmachst? Ja, so klein war dein Körper, als du zur Welt kamst, und wenn die Kapuze mit den Öhrchen über deinen Kopf gezogen war, sahst du im schneeweissen Strampler wirklich wie ein kleiner Eisbär aus. Eisbär mit einem hellbraunen Fleck am Rücken, der allen Chemikalien getrotzt hat.

Das Glück wiegt 397 Gramm.

Die Erleichterung packt fünf Windeln ein.

Der Leichtsinn nimmt drei Milchbeutel aus dem Gefrierfach. Die Abenteuerlust kauft Fahrkarten nach Leipzig.

Deine Mama, ich und du, unser Eisbärbaby im Tragetuch, wir steigen in den ICE.

Zum ersten Mal Familienabteil. Die Deutsche Bahn begrüsst alle Zugestiegenen.

Thermoskanne aufschrauben, Milchpumpe zusammensetzen, Beutel mit gefrorener Milch ins Heisswasser tauchen, Still-BH öffnen, dich auf die angezogenen Knie legen, Plastikhaube auf die Brustwarze drücken, 100 Milliliter aufgetauter Milch ins Fläschchen giessen, Sauger draufschrauben. Ich füttere und wickle dich, Mama pumpt deine nächste Mahlzeit ab.

Nur 50 Milliliter, sagt sie.

Komisch.

Noch läuft alles nach Plan. Am Leipziger Hauptbahnhof nehmen wir die Tram zum Messegelände, Halle 2, Freunde mit ähnlich kleinem Kind und vertrauten Augenringen freuen sich über die Überraschung.

Elternzeit, Kindergeld, Rückbildung, Trinkschwäche. Baby-Talk statt Buchmesse.

Jetzt sind nur noch 40 Milliliter rausgekommen. Ich weiss nicht, was los ist.

Wir haben noch zwei Milchbeutel, versuche ich zu beruhigen. Und drei Windeln. Genug, um noch die Freundin in der abgeschabten Galerie zu besuchen.

Dort wachst du auf, willst trinken, aber wir können deine Milch nicht aufwärmen, es kommt nur kaltes Wasser aus der Leitung.

Wir murmeln Entschuldigungen, drängeln uns durch, tragen dich, ein heulendes Häufchen Hunger, nach draussen.

Und jetzt?

Der Nachmittag ist schon fortgeschritten, der gerade noch so klare Himmel zugezogen, plötzlich weht ein eisiger Wind.

Kein Café weit und breit. Kein Restaurant.

Aber eine Bowlinghalle! Eine Kaffeemaschine! Heisses Wasser? Kommt sofort.

Für die Erwachsenen gibt es Pommes. Bier ohne Alkohol. Wohlfühl-Pop aus den Lautsprechern.

Du bist vorerst satt und gewickelt, wir haben es nicht mehr eilig. Vergessen die Zeit. Verpassen den letzten Schnellzug.

Aber die Regionalbahn fährt noch.

Bitte, wo umsteigen? Weissenfels? Noch nie gehört.

Plötzlich bremst der Zug auf freier Strecke. Unser Anschluss fährt ohne uns ab. Im Bahnhof von Weissenfels hat kein Bäcker und kein Kiosk mehr auf. Und du? Fängst noch im Schlaf an, Saugbewegungen zu machen.

Versucht es im «Jägerhof», rät der bärtige Taxifahrer und legt die Zeitung weg. Soll ich euch fahren?

Zusammen haben wir zwar vier Geld- und Kreditkarten dabei, aber nur noch einen Zehn-Euro-Schein und wenige Münzen.

Danke, wir laufen.

Der Saale-Fluss zieht dunkel unter uns hinweg. Wir biegen in die Altstadt ein. Verrammelte Schaufenster, zugemauerte Eingangstüren. Ein Ostdeutschland, das wir bisher nur aus dem Klischee kannten.

Was hat der Taxifahrer gesagt, rechts bis zum Kreisverkehr, dann links? Jetzt hätten wir wirklich gern ein Smartphone.

Die Strassen sind leer. Aber hie und da ist ein Fenster erleuchtet, buntes Fernsehflimmern.

Lass uns klingeln. Erklären. Dass das Kind an einer Trinkschwäche leidet und nicht gestillt werden kann. Dass es erst 397 Gramm zugenommen hat, seit es aus dem Fläschchen trinkt. Dass wir Heisswasser brauchen, um die Milch aufzuwärmen. Dass es verdammt nochmal ein Notfall ist.

Ich traue mich nicht.

Dann weiter. An diesem Haus sind wir doch schon vorbeigelaufen.

Nein.

Doch.

Fuck.

Bis auf einmal: Lichterketten! Rauchende Menschentraube! Gerettet.

Tut mir leid, sagt die Rezeptionistin. Wir sind ausgebucht, eine Tagung. Sie kneift die Augen zusammen. Deutet mit dem Kinn auf das Tragetuch. Ist da etwa ein Kind drin? Ach Gottchen.

Sie hebt den Hörer ab. Wählt. Bleib noch zehn Minuten. Ich habe Gäste für dich.

Der bärtige Taxifahrer lässt uns einsteigen. Schnell zur «Schönen Aussicht».

Wenn der «Jägerhof» nur eine Minute später angerufen hätte … Die Mitarbeiterin baut dein Bettchen auf, dann hat auch sie Feierabend.

Du leerst den letzten Milchbeutel. Zum ersten Mal legen wir dich ohne frische Windel schlafen. Ohne Schlafanzug. Ohne Schlafsack.

Und wir? Empfinden in unserem warmen Zimmer, während wir deinem Atem lauschen, Dankbarkeit und so etwas wie Mitgefühl für Maria und Josef im Stall zu Bethlehem.

Wir sind noch einmal davongekommen. Die Milch, die deine Mama für dich abpumpt, reicht knapp aus. Am Morgen lege ich dir die letzte Windel an. Wir frühstücken, bezahlen, ein Taxi fährt uns zum Zug.

Da fängst du an zu riechen, die Windel läuft aus. Seither ist dein Eisbärstrampler am Rücken braun.

Jetzt verstehst du vielleicht, warum deine Mama und ich, als es uns noch als Familie gab, ausgerechnet diesen Strampler in deine Kindheitsschachtel gelegt haben. Und was dieses Heft unter deinen Andenken macht.

Text: Dmitrij Gawrisch

Ursprünglich veröffentlicht in REPORTAGEN #50.
In Beiträgen wie diesem steckt eine Menge Arbeit. Und viel Herzblut. Schade finden wir, wenn sie nur einmal publiziert werden. Folglich haben wir an dieser Stelle quasi eine Fundgrube eingerichtet. Mit, so finden wir, grossartigen Artikeln aus dem Fundus von Reportagen – dem unabhängigen Magazin für erzählte Gegenwart.

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