14. August 2018
Irgendwo im Nirgendwo
Mit Blick auf den Gletscher
Die eindrücklichsten Horizonterweiterungen, finde ich, erlebt man beim Reisen. Beispielsweise in der Abgeschiedenheit der Grimselwelt.
Wer bereit ist, auf Komfort zu verzichten, seiner kindlichen Neugierde Freiraum lässt und die Augen offenhält, findet hier rasch zu seiner Mitte. Die Grimsel, soviel muss der Leser vorab wissen, ist eine Landschaft von Urgestein und Urgewalt. Die Gegend ist auf das Wesentliche reduziert. Auf Felsformationen, Wasser, Gletscher, allerlei Getier und Flora. Nichts also für verhätschelte Grossstädter, Partymacher und unverbesserliche Digital Natives. Für Naturliebhaber hingegen umso mehr. Bei günstigen Wetterverhältnissen gar rund um die Uhr. Neumondnächte sind bekanntlich besonders dunkel und Dank der fehlenden Lichtverschmutzung lassen sich hier oben Planeten und Sternschnuppen in ihrer ganzen Pracht bewundern.
In der Vergangenheit berichteten wir an derselben Stelle über das Hotel Handeck und das Grimsel Hospiz. Dieses Mal gingen wir einen Schritt weiter und machten für zwei Nächte im Berghaus Oberaar Station. In einem schlichten Steinbau irgendwo im Nirgendwo, mit einfachen, aber gepflegten Zimmern und einer gemütlichen Schankstube, versehen mit einer weitläufigen Terrasse. Von hier aus – das Sidelhorn hat man dabei im Rücken – gleitet der Blick hinab über den Oberaarsee, schweift von dort über Blockhalde und Gletscherzunge, hoch zum Gletscher, bis zu seinem Ursprung, dem Oberaarjoch. Links und rechts flankiert vom Oberaarrothorn und dem Oberaarhorn. Auch wenn sich das Eis, bedingt durch die steigenden Temperaturen, in den vergangenen Jahren drastisch zurückgezogen hat, eindrücklich ist das Naturschauspiel noch immer.
Freilich muss das Auge nicht zwingend derart weit in die Ferne schweifen. Unterhaltung wird dem Gast und Wanderfreund auch in unmittelbarer Nähe aufgetischt. Wer den Blick über den Tellerrand hebt, kann, vom gedeckten Tisch weg, den Murmeltieren bei ihrem Treiben zugucken. Und sich darüber wundern, wie arglos die putzigen Kerle über die Almwiesen toben. Wer noch näher an sie rankommen will, muss Geduld haben und sich in der Kunst des Anpirschens auskennen. Stets sitzt irgendwo ein Wachposten und warnt mit lautem Pfiff seine Artgenossen. So neugierig und verspielt die geselligen Tiere sind, so vorsichtig sind sie.
Die unbändige Kraft des Gletschers
Zurück zum Gletscher. Die recht entspannte Wanderung dauert, inklusive Rückweg, aber ohne Pause, rund drei Stunden und führt direkt vom Berghaus über die Staumauer, entlang dem Nordufer des Sees bis zu dessen westlichem Ende. Von dort geht es, infolge der Gletscherschmelze, noch ein rechtes Stück über die Blockhalde, bis endlich aus alter Zeit stammendes Eis befühlt werden kann. Wohltuend ist der brachiale Anblick der stattlichen Eismassen und das kühlende Lüftchen. Zugleich geht die bange Erkenntnis, dass solche Momente vergänglich geworden sind, ans Herz. In anderen Worten: Die unbändige Kraft des Gletschers zu spüren und gleichzeitig seine grenzenlose Verletzlichkeit wahrzunehmen ist eine ambivalente Erfahrung.
Eine ganz andere Erfahrung ist, zumindest stellenweise, die Farbenpracht hier oben. Faszinierend, was da speziell entlang des Oberaarsees alles Wurzeln schlägt, gedeiht und blüht. Niemand würde eine derartige Vielfalt an Vegetation auf über 2000 Meter auch nur erahnen. Damit man es glaubt, muss man es sehen. Und riechen. Wer sich in Botanik weniger gut auskennt, kann einen Bergfloraführer zu Rate ziehen. Darin ist alles exakt beschrieben und hübsch bebildert. Und die botanischen Eigenschaften sowie die Bedeutung für den Menschen in Medizin und Brauchtum kommen ebenfalls zur Sprache.
Dem Himmel etwas näher sein
Apropos Brauchtum: Im Berghaus Oberaar zu übernachten ist ein unvergessliches Erlebnis. Die rustikale und einfache Art der Unterkunft, mitten in der Natur, hat etwas ungemein Beruhigendes. Um nicht zu sagen, Energetisches. Man muss sich keinen Augenblick zur Ruhe zwingen – sie kommt von selbst. Und zwar von tief drinnen. Wahrscheinlich auch deshalb, weil man hier oben der Freiheit, seinen Träumen und dem Himmel etwas näher ist. Sitzt man abends draussen, geniesst ein feines Abendbrot mit einem Schluck Wein, lässt den ereignisreichen Tag Revue passieren, beobachtet die Lichtspiele über dem See, den Berghängen und dem Gletscher, dann ist man mit sich im Reinen. Und im Klaren darüber, was Seligkeit bedeutet.
Text: Urs Blöchliger | Fotografie: Urs Blöchliger
Sehr gut geschrieben, gratuliere. Hammer Location. Kann man auch mit dem Helikopter landen?
Keine Ahnung lieber Ivano. Die Menschen aber kommen wegen der Ruhe her – insofern kommst auch du lieber zu Fuss 🙂 …
Herzliche Grüsse und eine gute Woche wünsche ich dir.