Die letzten Worte | Feuilleton | Magazin Zürich

22. August 2017
Die Dinge beim Namen nennen

Andrea Keller über das grosse Adé

Am Telefon sagte Ella: «Hilfst du mir, meine Todesanzeige zu formulieren?» Die anderen am Tisch redeten weiter, aber ihre Stimmen klangen gedämpft.

Ella plant ihre Zukunft – und in der Zukunft liegt ein Ende. „Ich will nicht, dass in meiner Todesanzeige irgendwas von langer, schwerer Krankheit steht“, sagt sie. Das sei doch deprimierend. Also möchte sie den Text selber verfassen, zusammen mit mir. Was im ersten Moment bedrückend klingt, war befreiend: Wir tranken Rotwein, lachten, rauchten und suchten nach Worten, die ihrem Leben würdig sind.

Ich erinnere mich genau: dieser schöne Sommerabend vor einigen Jahren. Ich sass mit Freunden im Gloria, einem Zürcher Café, und plante einen Anlass. „Mit Live-Musik, ja? Nein? … Und die Lesung mit Mikro – wie viele? Woher?“ Dann klingelte mein Mobiltelefon. Ella. Anrufe von ihr waren selten, also ging ich ran. Ella-Bella, meine Tante und eine Schlüsselfigur in meinem Leben. Fein- und eigensinnig, ein Mensch, der die Natur liebt, Wind und Weite braucht, Freiheit – und doch eingeschlossen ist, seit einiger Zeit schon, in einem Körper, der nicht mehr tut und kann, was sie will.

Ich fragte: „Eilt es?“
Die Diagnose hat Ella vorerst für sich behalten. Irgendwann fand die Krankheit dann ihren eigenen, offenkundigen Ausdruck: in Ellas Bewegungen, den Schmerzen, in manchem auch, was Ella sagte. Damals, am Telefon, kam sie sofort zur Sache: „Hilfst du mir, meine Todesanzeige zu formulieren?“ Die anderen am Tisch redeten weiter, aber ihre Stimmen klangen gedämpft. So, als hätte jemand ein dickes Tuch zwischen mich und die Mitwelt gespannt. Ich fragte: „Eilt es? Hast du dich etwa entschieden, zu gehen?“ Ella beruhigte mich. „Nein“, sagte sie, „das nicht. Aber ich plane meine Zukunft – und darin liegt nun mal der Tod.“

Na, dann … Auf das Leben!
Ein paar Tage später sitzen Ella und ich bei meinem Vater auf dem Balkon. Vor unseren Augen wuchern die Sträucher und Bäume; wir hören die Grillen in der Wiese und Kuhglocken in der Ferne. Auch das Dröhnen der Autobahn. Ein Mäusebussard oder Rotmilan kreist über uns; ich bin mir nicht sicher … „Dabei sind sie ganz leicht zu unterscheiden – an der Schwanzspitze“, sagt Ella. „Der Rotmilan hat einen gegabelten Schwanz, ein V, so wie der da …“ Ich schaue nach oben. Ein Vögeli-V. Dann widme ich mich dem Blauburgunder. Ella bittet um eine Zigarette und sagt: „Es geht hier um meine Todesanzeige. Da kann ich gopfertelli auch rauchen.“ Wir lachen. Erheben die Gläser. Prosten uns zu. „Viva!“

Mit den Pflanzen und Tieren verbunden
Ella und ich diskutieren das grosse Adé, hinterfragen Formulierungen. Mir wird klar: Wenn es soweit ist, werde ich nicht „in stiller Trauer“ Abschied nehmen, so poetisch das auch klingen mag. Meine Trauer wird laut sein. Ich werde heulen wie ein Kind, unkontrolliert, arrhythmisch, werde die Nase hochziehen und dabei auch tatsächlich wieder jenes Mädchen sein, das sich Ella zum Vorbild nahm. Ella, die alles ein bisschen anders denkt und macht als die anderen. Fantasievoll und achtsam, mit den Pflanzen und Tieren verbunden, mit einem wachen Blick für Farben und Formen. Ella, die im Wind steht, im Kornfeld sitzt, mit ihren blonden Haaren. Ella, die mir und meinem Bruder unter der grossen Linde Geschichten erzählt. Die uns mitnimmt ins Reich der Tiere – zu den Insekten, „die einen riesigen Swimmingpool mit endlos langer Rutschbahn haben“, wie Ella weiss, „hier direkt unter uns, in der Erde.“

Zum Abschied: Worte, die schnurren und tanzen im Wind
Es kann einem schon Angst machen: das Vergängliche. Sogar Panik! Gerade weil wir nicht darüber reden. Ein befreundeter Psychiater meinte einmal: „Das Verhältnis zum Tod ist das Innerste des Menschen – wenn wir den Tod negieren, tun wir unserem Leben und Menschsein keinen Gefallen.“ Nun, seit jenem Abend auf dem Balkon weiss ich tatsächlich, wie wichtig und richtig es sich anfühlen kann, die Dinge beim Namen zu nennen. Denn als wir beisammen sassen, mit Wein und nach Worten suchend, redend, schreibend, glücklich, traurig, schien mir das extrem und zugleich sehr normal zu sein. Und ich verstand sie ja, die geliebte Seele: Die Krankheit darf tatsächlich nicht am Ende (da-)stehen. Sie bringt ein Leben nicht auf den Punkt.

Jene Worte, die passen und bleiben sollen, wenn meine Tante Ella gegangen ist, sind lebhaft und leicht und frei. Worte, die nach Herbstlaub riechen, nach frischem Schnee, schnurren wie eine Katze und tanzen im Wind.

Text: Andrea Keller | Fotografie: Andrea Keller

Andrea Keller ist Journalistin, Kulturpublizistin und Kommunikationsverantwortliche beim Museum Schaffen in Winterthur. Daneben realisiert sie Kunstprojekte, gibt Schreibkurse und schreibt auch selber (wenngleich viel zu selten), mitunter über das Schreiben.

Andrea Keller | Autorin | Magazin Zürich
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