25. August 2015
Erzählungen rund um Zürich
Die Züri-Linie in Licht und Schatten
Ein ganz normaler Tag auf Zürichs Strassen: Subtil festgehalten von Strassenfotograf Daniel Comte, scharfzüngig beschrieben von Stadtflaneur Heinz Vögeli.
Es ist nicht Laufen, nicht Schlendern, nicht Wandern – Flanieren ist eine sehr eigenständige, eigenwillige Form der Fortbewegung: kontemplatives Herumlaufen, Entschleunigung in der Hektik der Masse. Wer dem Flanieren frönt, tritt in grosse Fussstapfen, die bedeutende Geister vor ihm hinterlassen haben. Baudelaire galt als Inbegriff des geistreichen Flaneurs. Für ihn waren die Stadt und ihre Menschen zentraler Gegenstand steter Interpretationen und Entschlüsselungen. Auch dem Zürcher Stadtflaneur begegnen beim morgendlichen Flanieren ganz unterschiedliche Zeitgenossen.
Lukratives Geschäftsmodell
Da sind die Smartphone-Menschen. Durch die Strassen eilend, starren sie mit angespanntem Gesichtsausdruck auf die Displays, als ob von dort eine Offenbarung käme. Manchmal trifft die gar ein. Ein WhatsApp offenbart, die Beziehung sei jetzt gerade beendet. In der Regel sind die Botschaften trivialer. Empörungs- Tweets und lange Maillisten, Fotos, die Facebook-Freunde während eines Essens gepostet haben: Schlachtplatten oder geschmäcklerisch arrangierte Vegi-Menüs. Diese eigentlich nichtigen Informationen drängen sich mit einer unglaublichen Penetranz ins Leben vieler Menschen. Ein sehr lukratives Geschäftsmodell für Psychologen, sie wieder aus diesen digitalen Fängen zu befreien.
Aggressiver kommen die Kampfvelofahrer daher. Insignien dieser Spezies sind ein Helm, dessen Form an die Soldaten im ersten Weltkrieg erinnert, dreiviertellange Hosen und währschaftes Schuhwerk, ein Velo, sorry, ein Bike, das sicher nicht an einer Velobörse erstanden wurde und immer dabei – ein Rucksack. Was lösen sie wohl aus, wenn sie in dieser Montur am Arbeitsplatz erscheinen? Vermutlich verschwinden sie schnell in der Garderobe, um sich wieder in ganz normale Menschen zu verwandeln. Velostreifen sind offensichtlich nicht das Ding dieser Kampfvelofahrer, grössere Herausforderungen scheinen Trottoirs und Fussgängerzonen zu bieten. Mit gefühlten 40 bis 50 km/h preschen sie eng an den Fussgängern vorbei. Mit selbstgerechtem Gesichtsausdruck. Man ist ja schliesslich ökologisch korrekt unterwegs.
Coffee to go
Dieses Phänomen der selbstgerechten Velofahrer hat der Schriftsteller Hugo Lötscher bereits vor vielen Jahren beschrieben. Auf seinen kurzen Gängen von seiner Wohnung in der Storchengasse zum Grand Café wurde er oft von dieser Sorte Bikern behelligt. Harmloser begegnen dem Stadtflaneur die Coffeeto- go-people. Coffee to go, eine Sitte, importiert aus den USA, ist die Zeitoptimierung zwischen möglichst langem Ausschlafen und einem zeitigen Arbeitsbeginn. Die effizienten Amerikaner nutzen für den morgendlichen Kaffeegenuss die Autofahrt zum Arbeitsplatz.
Anderes beobachtet der Stadtflaneur in Zürich. Da wird der Kaffee in einem geeigneten Lokal in der Nähe des Arbeitsplatzes erstanden. Ursprünglich bei Starbucks, mittlerweile bieten auch die bünzligsten Tearooms diesen Service. Das Getränk wird dann nicht etwa auf dem weiteren Arbeitsweg geschlürft, sondern wie eine Trophäe vor sich hergetragen. Am Arbeitsort wird rasch eingecheckt und dann, relax, gemütlich der Gehkaffee getrunken, während man am Smartphone die Newsportale screent. Eigentlich erstaunlich, dass pingelige Ökonomen im Pappbecher-Phänomen nicht schon längt eine Gefahr für die Produktivität der Wirtschaft erkennen.
Text: Heinz Vögeli | Fotografie: Daniel Comte
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