Meditation auf dem Wasser | Feuilleton | Magazin Zürich

14. Juni 2014
Erzählungen rund um Zürich

Meditation auf dem Wasser

Verweilen Sie in einer bodenlosen Bewegung: Es gib nur den Schiffsbug unter Ihren Füssen, den Zürichsee und dem Schiffsbug.

Wellen, Wellen. Wind im Gesicht und Weite – der Blick bis an die Glarner Alpen. Auf den Berggipfeln liegt Schnee. Und der Schaufelraddampfer dreht seine Runden, rabenschwarz schnaubend, er dreht am Rad unserer Zeit.

Die Tage, Jahre, Jahrzehnte drehen und verflüssigen sich, schäumen am Rande des Schiffsrumpfs, vermischen sich mit den Wellen des Sees. Dann sinken sie ab, die Zeitziffern, vorbei an Rotaugen und Forellen, vorbei an Karpfen und Felchen. Ein Halten erst, ein Ankommen, auf dem weichen Seeschlamm am Boden. Die Zahlen landen auf dem Grund des Gewässers, an einem Ort tiefer Dunkelheit. Und wo kein Licht hinscheint und der Sauerstoff nicht ausreicht für unser komplexes Leben, bekommt die Zeit plötzlich Luft. Wo alles andere erstickt, kann sie endlich frei atmen. Sie kann sich ausruhen von ihrer wilden Raserei, sich friedvoll aufheben, sich aufgeben und ihre Gültigkeit.

262 Tonnen schwer, stark wie 500 Pferde, fast 60 Meter lang.

Oben auf dem Wasserspiegel zieht das Schiff seine Runden, in weitem Bogen durch die Wogen des Sees. Der Schaufelraddampfer, meine Damen und Herren, in Zürichs Schiffswerft Escher Wyss erschaffen: 262 Tonnen schwer, stark wie 500 Pferde, fast 60 Meter lang. Ein Wunderwerk auf dem Wasser. Sie reisen mit, stehen an der Reling, sehen Sie sich? Es ist Hochsommer und schön. Der Dampfer schnaubt seinen Qualm in den heiteren Himmel.

Die Möglichkeit, Dinge anders zu betrachten
Der Blick wendet sich nun von den Berggipfeln ab. Er richtet sich nach innen, dringt durch die Augen hindurch, beobachtet Gedanken, die dahinter liegen. Die Möglichkeit, Dinge anders zu betrachten, aufgeschaukelt durch eine bodenlose Bewegung. Die Möglichkeit, sich als tiefer zu erleben, länger auch, unendlicher, als es der Körper von aussen erahnen lässt. Man muss sich nur herausnehmen, hin und wieder, und rausfahren auf den Zürichsee, um sich fliessend und wellenweich zu fühlen. Von der Zeit befreit.

Text: Andrea Keller | Fotografie: ZSG

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